Gruppenanalytische
Selbsterfahrung mit Probanden
Konzept
des seit September 2002 laufenden Projektes beim Landgericht Braunschweig und
beim niedersächsischen Ministerium für Justiz.
Theorie
Norbert
Elias hat die Fähigkeit des Menschen seine Affektäußerungen und Triebimpulse zu
kontrollieren, als die bedeutendste Zivilisationsleistung verstanden. Das Zusammenwirken
zwischen diesem individuellen Anpassungsprozess und der Delegierung des Gewaltmonopols
an den Staat, öffnet „befriedete“ Lebens- und Arbeitsräume. Die Motivation des
Individuums diese Anpassungsleistung zu erbringen, erfordert eine Integrations-
und Beziehungsfähigkeit.
Straffällig
gewordenen Menschen sind biographische
Mangel- und Verlusterfahrungen gemeinsam. Verlässliche Objektbeziehungen
konnten nicht ausreichend gebildet werden, sodass gute Objektrepräsentanzen
kaum zur Verfügung stehen.
Erfahrungen
mit Versagungsfrustrationen überwiegen und können die frei werdenden Aggressionen
nur ungenügend abfangen. Mit unzureichenden
Objektrepräsentanzen bleibt die Identitätsbildung bruchstückhaft und
unstabil. Die Folgen sind
Ich-Funktionsstörungen, welche durch unzureichende Impulskontrolle, stereotyp
sich wiederholende unreflektierte Beziehungsmuster und durch „unreife“
Abwehrmechanismen hervortreten. Ich-Funktionsstörungen bewirken eine Verarmung im Erleben und zeigen eine
Einengung der Lebensführung auf. Diese Faktoren begünstigen eine verzerrte Realitätsbeurteilung,
Kontaktabbrüche, Arbeitsunfähigkeit und delinquentes Handeln.
Gruppenanalyse
erforscht menschliches Verhalten und Fehlverhalten in der Gruppe. Die Art und
Weise, wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander kommunizieren, gibt
Auskunft über ihre lebensgeschichtlichen Beziehungserfahrungen.
Damit
rückt die Analyse des Beziehungsgeschehens zwischen
den Gruppenmitgliedern in den Vordergrund und wird im Kontext der begangenen
Straftat systematisch reflektiert. Allen Teilnehmern gemeinsam ist, dass sie
Straftäter sind. So wird im Besondern der individuelle Täteranteil und damit die
eigene Verantwortung für die Tat herausgearbeitet.
Herstellen
und Aufrechterhaltung der frei fließenden Gruppenkommunikation schafft eine
Arbeitsatmosphäre, die den Zugang zum unbewussten Gruppenprozess öffnet.
Durch die
gruppenanalytische Haltung der Leitung wird es zu Konflikten kommen, weil die
Erwartung enttäuscht wird, eine Gruppenordnung zu verfügen, welche den
Mitgliedern die Anstrengung ihrer Selbstbestimmung abnimmt.
Diese
Konflikte werden in dem Maße und in der Art aktiviert, wie sie die Mitglieder
an eigene traumatisch erlebte Lebenskonflikte erinnert. Mitglieder erleben also
im Hier und Jetzt eigene innerpsychische Konflikte wieder.
Dieser
Prozess löst Reibungen aus. Durch die Arbeit in der Gruppe werden Wahrnehmungserweiterungen
gefördert und Zusammenhänge zwischen
biographischen Erfahrungen und straffälligem Verhalten ins Bewusstsein gehoben.
Die Teilnehmer erhalten einen Zugang zu ihren eigenen Affekten und ihren Aggressionen.
Ziel ist, durch Herausarbeitung des eigenen aktiven Anteils als Täter unbewusste Zusammenhänge zwischen gewohnten
Beziehungsmustern, Konfliktlösungsmechanismen und Straftat zuerkennen.
__________________________________________________________________
Die
Einsicht der Mitglieder führt zur Anerkennung und bewussten Übernahme der
eigenen Verantwortung der Straftat. Alternative Verhaltens- und Umgangsweisen
sind nun möglich zu entwickeln.
Dieser
Gruppen- und Veränderungsprozess setzt ein Setting voraus, welches die
Mitglieder nach außen schützt und abgrenzt und nach innen die größtmögliche Öffnung
und Offenheit zulässt.
Wichtig
ist die Beeinflussung der Mitglieder durch das Setting, sodass diese zu der
Überzeugung gelangen, auf ein Agieren außerhalb der Gruppe zu verzichten und
auftretende Konflikte und Spannungen innerhalb der Gruppe zu lösen.
Konzeption
Das gruppenanalytische Selbsterfahrungssetting ist minimal strukturiert.
1 x wöchentlich treffen sich für 90 Minuten eine Anzahl von
Menschen in einem Gruppenraum. Die Stühle entsprechen der Zahl der Teilnehmern.
Sie stehen im Kreis, ohne Tisch. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Treffen sind
ohne vorgeschriebenen Ablauf, ohne Programm, ohne festgelegtes Thema. Die
Gruppenanalytikerin lädt die Teilnehmer zum freien Reden ein, also über alles
zu sprechen was ihnen einfällt und was sie beschäftigt. In diesem offenen Raum
entfaltet sich das Unbewusste der Teilnehmer und bietet einen Zugang zu ihren
innerseelischen Konflikten.
InteressentInnen absolvieren ein psychoanalytisches
Erstinterview mit dem Ziel, herauszuarbeiten, welche Vorstellungen sie
haben, was sie wie in der Gruppe be- und erarbeiten können.
Haben sie
sich für ihre Teilnahme in der Gruppe entschieden, diese für mindestens 1 Jahr
verbindlich erklärt und die Aufnahme in den Bewährungsbeschluß als Weisung
ausdrücklich bejaht, stellen sie an das Gericht einen entsprechenden Antrag.
Bei Zustimmung des Gerichts erfolgt die Aufnahme in die Gruppe.
Für den
erfolgreichen Prozess des Einzelnen in der Gruppe ist die frei getroffene
Entscheidung von Bedeutung. Diese ersetzt die subjektiv empfundene und auch reale
Fremdbestimmung durch Gericht und Bewährungshilfe. Zudem erfährt der Teilnehmer
durch die Gruppe eine kontinuierliche Begleitung und Kontrolle.
Eine auf
Freiwilligkeit beruhende Entscheidung und die Übernahme der Verantwortung für
dieses eigene Tun löst Selbstheilungsprozesse im Einzelnen aus. Durch Erkenntnis
und Einsicht ist er zunehmend befähig, alternative Handlungsweisen zu entwickeln
und umzusetzen.
Die
Bestellung eines Bewährungshelfers entfällt. Bei Beibehaltung der Unterstellung
stimmt das Gericht alternativ zu, die Arbeit in der Einzelfallarbeit für die
Zeit der Teilnahme ruhen zu lassen. Die Gruppenleitung und der Proband werden
schriftlich informiert. Der Proband erklärt sich ausdrücklich bereit, dem
Gericht in regelmäßigen Abständen eine Teilnahmebestätigung zu zusenden.
Bricht der
Teilnehmer die gruppenanalytische Selbsterfahrung ab, erhält das Gericht eine
Mitteilung. Es besteht dann die Möglichkeit, in der traditionellen Bewährungshilfe
weiter zu arbeiten. Darüber
entscheidet das Gericht.
Die
Mitglieder wie auch die Leitung verpflichten sich zu absoluter
Verschwiegenheit. Für die Gruppe gelten hier Regeln analog des therapeutischen
Settings.
___________________________________________________________________
TeilnehmerInnen:
Es werden
3 Gruppen von Straftätern angesprochen:
1. ProbandInnen, die aktuell eine
Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, erhal-
lten und während der Gerichtsverhandlung
oder später ihr Interesse an einer Teil-
nahme bekunden.
2. ProbandInnen, die unter Bewährung stehen und ihre begonnene
Verhaltens-
änderung
in der Gruppe integrieren und
festigen wollen.
3. ProbandInnen, die erneut und wiederholt
straffällig geworden sind und damit unter
einem hohen Leidensdruck und besonderer
Motivation zur Verhaltensänderung
stehen.
Voraussetzungen
zur Teilnahme:
· Die
nachhaltige Motivation, für die Dauer von mindestens einem Jahr aus
einer frei und selbständig getroffenen
Entscheidung heraus, an den wöchentlich
stattfindenden Gruppensitzungen
kontinuierlich teilzunehmen
· Die
Bereitschaft und die Zusage, die eigene Straftat in den ersten Sitzungen
der Gruppe mitzuteilen.
· Die Einsicht
zur Notwendigkeit von Verhaltensänderungen mit dem Ziel, alterna-
tive Konfliktlösungs- und Beziehungsmuster
erarbeiten zu wollen. Hilfreich ist
eine positive Erwartung hinsichtlich des
Nutzens der Selbsterfahrung und eine
offene und neugierige Haltung mit Blick auf
den Gruppenprozess.
Geeignet
sind weiter (ProbandInnen, die)
· eine
Stabilisierung ihres veränderten Verhaltens im Umgang mit ihrer Suchtab-
hängigkeit nach einem stationären Therapieaufenthalt erreichen wollen
· wiederholt durch Aggressions- und
Gewaltdelikte auffallen
· eine
Straftat aus einem inneren Konflikt heraus begangen haben und eigene
biographische Erfahrungen verarbeiten, indem
sie andere verletzen
· eine
Straftat in der Gruppe begangen haben
· wie in
Trance oder auch bewusst immer wieder Diebstähle begehen.
·
Sexualstraftäter mit günstiger Prognose
und besonderer Einsichtsfähigkeit
Gruppenleitung
Die Gruppe
wird von Frau Heike Düwel, Gruppenanalytikerin, Sozialarbeiterin und Diplom-Supervisorin (DGSv +
DAGG) geleitet. (Sprechstd.: Mo: 10.00h - 13.00h + Do: 15.00h – 18.00h) Kasernenstr. 25 – 38106
Braunschweig -' 0531 –
488-1707
Projektbegleitung
Wissenschaftlich
begleitet wird das Projekt von Frau Dr. Elisabeth Rohr, Professorin für interkulturelle
Erziehung an der Philipps-Universität Marburg, Supervisorin und
Gruppenanalytikerin.